B. Pietrow-Ennker (Hrsg.): Nationsbildung und Außenpolitik im Osten Europas

Cover
Titel
Nationsbildung und Außenpolitik im Osten Europas. Nationsbildungsprozesse, Konstruktionen nationaler Identität und außenpolitische Positionierungen im 20. und 21. Jahrhundert


Herausgeber
Pietrow-Ennker, Bianka
Erschienen
Osnabrück 2022: fibre Verlag
Anzahl Seiten
752 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Hilger, Max Weber Stiftung, Bonn

Der Band kommt zur rechten Zeit. Er spürt der Verbindung von „Konstruktionen von nationaler Identität und einer darauf basierenden Innenpolitik mit außenpolitischen Vorstellungen, Konzepten und Praktiken“ in Osteuropa nach (S. 13). Wie brisant diese Verflechtung ist, zeigten bereits die blutige Transformationsphase nach dem Ersten Weltkrieg und ihre fragilen Zwischenergebnisse.1 Neben den Unstimmigkeiten zwischen diversen ost- und westeuropäischen Mitgliedstaaten der EU belegen die Krim-Annexion 2014 und der russische Angriff auf die Ukraine 2022, dass nationale Identitätsfragen und -probleme nichts von ihrer Explosivität eingebüßt haben. In diesem weiteren Zusammenhang dienen kenntnisreiche Beiträge wie derjenige von Frank Golczewski zur Ukraine und derjenige von Benno Ennker zu Russland zugleich als Kommentare zur aktuellen Debatte um mögliche Versäumnisse des Fachs Osteuropäische Geschichte. Die Texte dokumentieren, dass in geschichtswissenschaftlichen Fachkreisen durchaus umfangreiches kritisches Wissen über die entsprechenden innenpolitischen Entwicklungen und ihre potenziellen außenpolitischen Implikationen bereitstand und -steht.2 Auf der anderen Seite sind einzelne Interpretationen, die neben Golczewski unter anderem Dieter Langewiesche, Andreas Kappeler und Elena Zubkova in diesen oder anderen Zusammenhängen vorbringen, sicherlich nicht unumstritten (S. 42f., S. 54, S. 488, S. 577). Die eindeutige Orientierung, die sich Politik und Öffentlichkeit mitunter von der Historiografie wünschen, kann und will diese kaum anbieten.

Ungeachtet dessen liefert der Band insgesamt für das 20. und 21. Jahrhundert höchst spannende Einsichten in die Wechselbeziehungen zwischen Außen- und Innenpolitik, zwischen Identitätskonstruktionen und internationalen systemischen Zwängen und Chancen sowie zwischen Akteuren und strukturellen Handlungsbedingungen. Gänzlich neu ist ein solcher Ansatz, der „Nationsbildungsprozesse, Konstruktionen von nationaler Identität und außenpolitische Positionierungen“ hier für den „Osten Europas“ zusammendenkt, nicht (S. 19; Titel). Für den globalen Süden markieren diese fundamentalen Herausforderungen postkolonialer Umbauten seit längerem relevante Forschungsfelder. In der Osteuropäischen Geschichte sind in Analysen internationaler Fragestellungen konstruktivistische Ansätze ebenfalls gewinnbringend genutzt worden.3 Derlei Studien verweisen zugleich auf die Relevanz internationaler Machtkonstellationen, die der außenpolitischen Überzeugungs- und Sprengkraft von Identitäts- und Nationsbildung eigene Grenzen setzen – oder ihr Räume eröffnen.

Ein Vorhaben, welches osteuropäische Prozesse auf spezifische Gemeinsamkeiten hin abklopft und die Erkenntnisse in Debatten über globale und transnationale Geschichte einbringt, ist per se begrüßenswert. Eine vollständige Gesamtschau, die allen nationalen und ethnischen Wegen, Verflechtungen und Abgrenzungen nachspüren würde, ist selbst auf über 700 Seiten nicht möglich. Das Ziel der Herausgeberin war vielmehr, über die ausgewählten Fallstudien „Typisierungen zu ermöglichen und zugleich Sonderentwicklungen zu beleuchten“ (S. 18). Die entsprechende Auswahl überzeugt vor allem dann, wenn innerhalb der drei chronologischen Abschnitte – ab 1918, ab 1945 und ab 1989 – transnationale Verflechtungen und internationale Abgrenzungen multiperspektivisch beleuchtet werden oder aber die Leitfragen für einen Staat über alle Perioden hinweg durchdekliniert werden. Dies gelingt im ersten Teil exemplarisch für die Ukraine, Polen und Litauen, eher passim im dritten Teil für Ungarn und Rumänien. Hinsichtlich einer Nation und ihres Staats bieten die Längsschnitte zu Polen, zur Tschechoslowakei, zu Ungarn, Jugoslawien und Rumänien instruktive Einsichten. Die Problematik russischer Nationsbildung wird zunächst aus peripheren oder imperialen Perspektiven angesprochen.

Im Ganzen finden sich im gesamten Band beachtenswerte Überlegungen sowie mitunter methodisch originelle Zugänge, etwa in den Ausführungen von Florian Peters, Kateryna Kobchenko, Pavel Kolář, Julia Richers und Christoph Mick. Einige Beiträge indes scheinen bei der Behandlung des hier interessierenden Gesamtkomplexes die Außenpolitik aus dem Blick zu verlieren (Andreas Kappeler, S. 47), bieten Momentaufnahmen (Regina Fritz, S. 413–432) oder deuten hochinteressante Forschungsperspektiven eher an, als dass sie diese ausschöpfen (Tanja Zimmermann, S. 679–700). Die jeweiligen Zwischenbilanzen erleichtern den Überblick, beschränken sich jedoch in Teilen auf die inhaltliche Zusammenfassung ohne analytischen Ausbau.

Unter der gegebenen politischen und geografischen An- und Einordnung der Einzelstudien fallen die Typisierungen vergleichsweise unspektakulär aus. Die „Neugestaltung Europas“ nach dem Ersten Weltkrieg schuf Staaten mit einem „chronischen Revisionismus“ und Nationen mit einem „ebenso chronischen Irredentismus“ (Dieter Langewische, S. 33f.). Die NS-Gewaltherrschaft und der von Deutschland entfesselte Zweite Weltkrieg radikalisierten die Homogenisierung der Nationalstaaten. Danach waren sie in Osteuropa in unterschiedlichem Ausmaß dem sowjetischen Imperium unterworfen. Im Sozialismus wurden nationale, nationalistische und nationalstaatliche Programmatiken nicht blockiert, sondern neu gedacht und aufgeladen. Ab 1989 bewies die nationalstaatliche Idee ihre ungebrochene Anziehungskraft und Virulenz. Inwieweit das Spannungsverhältnis zwischen betonter Souveränität und europäischer Integrationsidee, welches in vielen neuen osteuropäischen Mitgliedstaaten durchscheint, in leidvollen historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts wurzelt (Dieter Langewiesche, S. 43f.) oder in populistischer Instrumentalisierung von Feindkonstruktionen aller Art, darüber lässt sich sicherlich in jedem einzelnen Fall streiten (so Klaus Ziemer, S. 614–619).

Der größte Wert des Bandes liegt in der genauen Aufschlüsselung der einzelnen nationalen Wege, wobei hier wohl eher von der Vielfalt der Entwicklungswege als von „Sonderentwicklungen“ (Vorwort, S. 18) zu sprechen wäre. In der Summe der Beiträge werden zahlreiche relevante Aspekte und Dimensionen von – erfolgreicher oder missglückter – Nationsbildung in Osteuropa deutlich: Ihre diversen politischen und gesellschaftlichen, teils kirchlichen Akteure und Zielsetzungen, die unterschiedliche Austarierung wirtschaftlicher, außen- und innenpolitischer und kultureller Chronologien bzw. Schwerpunkte sowie die dynamischen Wechselwirkungen zwischen internationalem Umfeld, Binnenpolitik und außenpolitischem Auftreten. „Was für eine Stellung die Außenpolitik als ein spezifisches Vorstellungs- und Handlungsfeld im Herrschaftssystem des Staatssozialismus eigentlich hatte“ (Pavel Kolář, S. 377), ist auf dieser Basis nur eine der weiterführenden Forschungsfragen. Im Hinweis auf die Bedeutung von Identitätswandlungen sowie die differenzierte Aufschlüsselung des Bezugspunkts „Westen“ (z.B. in den Beiträgen von Jeronim Perović und Miroslav Kunštát) sind andere angesprochen. Ohne weiteres lässt sich das erstgenannte Problemfeld etwa auf das postkommunistische Polen nach 2015 übertragen, wie Ziemer demonstriert (S. 616–618).

Die Beiträge zeigen relevante Einflüsse und nationalpolitische Auswirkungen militärischer Entscheidungen, der Aktivitäten von Exilgemeinden, von eigenständigen außenpolitischen Apparaten, von Alterskohorten, wirtschaftlichen Strategien und des Umgangs mit Minderheiten auf. Die Grenzen zwischen defensiver nationaler Selbstbehauptung und offensivem Ausgreifen erweisen sich zum Beispiel bei Zivilisierungsmissionen als fließend; innen- und außenpolitische Kontexte einzelner Themenfelder lassen sich nicht eindeutig voneinander trennen. In anderen Bereichen, insbesondere im Spannungsfeld von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und sozialistischem Modernisierungsanspruch, weisen vermeintlich unverbundene nationale Prozesse – etwa in Polen, Rumänien, in der Tschechoslowakei und in Lettland – aufschlussreiche Parallelen auf. Auf der anderen Seite führten vergleichbare Grundvoraussetzungen keineswegs zwangsläufig zu identischen Entwicklungswegen.

In einer souveränen Abschlussdiskussion entwickelt Ulrike von Hirschhausen aus den Beiträgen fünf historische Kategorien, die für die Analyse der Wechselwirkung zwischen Nationsbildung und Außenpolitik fruchtbar gemacht werden können: imperial legacies, Ethnizität, Diasporagruppen, der internationale Kontext und Globalisierungsprozesse (S. 713f.). Den anregenden und materialreichen Beiträgen des Bandes ist eine genaue Diskussion solcher regional- wie globalgeschichtlichen Implikationen, Querbezüge und Vergleichsmöglichkeiten zu wünschen, in der die Tragfähigkeit der Kategorien erwiesen und ergänzt werden kann.

Anmerkungen:
1 Vgl. Włodzimierz Borodziej / Maciej Górny, Der vergessene Weltkrieg. Europas Osten 1912–1923, 2 Bde., Darmstadt 2018. Als Gesamtaufnahme zuletzt Włodzimierz Borodziej / Stanislav Holubec / Joachim von Puttkammer (Hrsg.), The Routledge History Handbook of Central and Eastern Europe in the Twentieth Century, 4 Bde., London 2020–2022.
2 Vgl. die Beiträge von Guido Hausmann / Tanja Penter / Klaus Gestwa, in: Historische Zeitschrift 315 (2022), S. 395–444.
3 Vgl. u.a. Ted Hopf, Social construction of international politics. Identities and foreign policies, Moscow 1955 and 1999, Ithaca 2002; Andrej P. Cygankov, Russia and the West from Alexander to Putin. Honor in international relations, Cambridge 2012; ders., Russia’s Foreign Policy. Change and Continuity in National Identity, Lanham 2022.

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